Sonntag, 15. Mai 2011

Wieder in Soma

Wieder in Soma“ (geschrieben am 10. Mai 2011, nachts)

Vorgestern und heute war ich unterwegs, um für meinen Bruder eine Einrichtung zu suchen. Mittlerweile habe ich auch eine schöne gefunden, aber sie liegt nicht im Arakawa-Bezirk von Tokyo, und nicht einmal in Tokyo, sondern im Totsuka-Bezirk von Yokohama. Das bedeutet jede Menge amtliche Hürden, wenn man weiterhin die finanzielle Unterstützung des Bezirks in Anspruch nehmen möchte. Mein Bruder ist völlig mittellos, und mehr als 1000 Euro monatlich kann ich mir auch nicht leisten. Mal sehen...

Übrigens war Herr Matsushige, dessen Firma ihren Sitz in unserem Haus hat, den ganzen Sonntag mit seinem Auto für uns unterwegs. Eigentlich war das einer seiner seltenen Ruhetage. Ich staune immer wieder über seine Hilfsbereitschaft.

Am Samstag, 7. Mai, war ich wieder mit Ryusuke und Mikio in Soma. Abfahrt war wie beim letzten Mal gegen 1 Uhr nachts. Diesmal hatte ich den internationalen Führerschein dabei, so dass ich auch eine Teilstrecke hätte fahren können - Mikio ließ mich aber nicht. Erstens scheint er gern zu fahren und zweitens wollte er mich wohl schonen. Auch diesmal haben wir eine sehr gute Unterhaltung geführt. Nicht nur die Themen, sondern auch unsere „Chemie“ scheint zu stimmen. Übrigens musste ich beim Versuch, für nächste Woche ein Auto zu leihen, feststellen, dass der internationale Führerschein aus Deutschland in Japan nicht gültig ist. Es gibt in vielerlei Hinsicht unerwartete Hürden. Oh je…

Da wir sehr früh am Morgen ankamen, haben wir das südliche Ufer von Matsukawa-Ura besichtigt. Wir standen wieder vor den Trümmern einer total vernichteten Siedlung. Einige Leute, deren Häuser dort einst standen, waren dabei, nach den Überresten ihrer Habseligkeiten zu suchen. Einer fand 3 große Gartensteine, die – wenn er sie nicht vorher aufsammelt – von der Stadt oder von der Armee zusammen mit all den anderen zahllosen Steinen beseitigt werden würden. Es fand sich auch eine leicht beschädigte Schnitz-Figur eines Bärs mit einem Fisch im Maul. Ich dachte daran, sie mit nach Deutschland zu bringen, damit ich sie den Leuten bei einem evtl. Vortrag oder einer neuen Spendensammelaktion als Symbol für die Zerstörung, bzw. Hoffnung bzw. Rettung im totalen Chaos zeigen kann. Denn Ich glaube, sie wird andernfalls als Schutt beseitigt werden. Immerhin sind fast 8 Wochen vergangen, ohne dass sie jemand geborgen hat. Aber Ryusuke war dagegen. Ich verstehe seine Bedenken, man darf die minimale Möglichkeit, dass der/die Besitzer/in sie wiederfindet, nicht ausschließen. Ich ließ sie auf den Überresten einer Mauer stehen. Allein hier sollen 250 Menschen durch die Welle gestorben sein.

Danach gingen wir wieder zu Frau Niizuma, die gerade am Frühstücken war. Eine junge Dame aus Hokkaido, deren Mann als Tierarzt in einem Ponyhof hilft, stieß zu uns. Zu fünft gingen wir in eine Gegend, die berühmt für ihre in Treibhäusern gezüchteten Erdbeeren ist. Leider wurden viele Treibhäuser vom Tsunami vernichtet. Die gesamte Ernte von Bauer Tateyama wurde vernichtet. Wir sahen nur noch traurige braune Überreste. Er hat insgesamt 8 Treibhäuser, die etwa 4 m breit und 30 m lang sind. Jetzt muss er ganz neu anfangen. Er meinte, er würde etwa 5 Jahre keine Erträge haben, weil der Boden völlig versalzen ist. Jedenfalls muss er – abgesehen von den äußeren Gerüsten - alles einmal wegmachen. Wir haben also die ganzen Folien und die inneren Metallgerüste beseitigt, aufgerollt und zusammengebunden. Wir konnten aber an diesen Tag, aus zeitlichen Gründen, die salzige Erde in den Treibhäusern nicht beseitigen. Trotzdem war Herr Tateyama sehr dankbar für unsere Hilfe, denn alleine hätte er dafür mindestens 10 Tage gebraucht. Schon das Beseitigen der durch Dreck schwer gewordenen und zerissenen Folien war Schwerst-Arbeit. Die beiden Damen haben wirklich gut gearbeitet, sie standen uns Männern in nichts nach. Ich ziehe auch den Hut vor Frau Niizuma, die jeden Tag derartige Hilfeleistungen erbringt!

Am Ende wurden wir mit guten Erdbeeren belohnt, die ein anderer Erdbeerbauer, Herr Saikawa, der solche Hilfsangebote koordiniert und dessen Treibhäuser weitgehend gerettet wurden, uns anbot. Obwohl wir nicht in seinen Treibhäusern gearbeitet haben, war er für seinen Kollegen dankbar und sehr großzügig uns gegenüber. Wir haben uns nicht nur satt gegessen, sondern auch Erdbeeren zum Mitnehmen bekommen. Es gibt noch Hoffnung in Japan, solange es solche großzügigen selbstlosen Menschen wie ihn, Ryusuke, Frau Niizuma oder Matsushige-san gibt.

Übrigens möchte ich kurz erwähnen – da ich in Deutschland immer wieder gefragt werde, ob es auch in Japan Dialekte gibt - dass nicht nur ich, sondern auch Ryusuke nur die Hälfte von dem, was Herr Tateyama erzählt hat, verstand. Wir waren auf sein wildes Gestikulieren angewiesen, um zu verstehen, was wir tun sollten :-)

Anschließend besuchten wir noch 2 Kinderhorte, um Wasser zu verteilen. Eine Betreuerin erzählte uns eine Episode von kurz nach der Katastrophe. Die Kinder hatten damals keine Milch und kein Brot. Eines Tages brachte ihnen jemand die fehlenden Lebensmittel. Als sie verteilt wurden, hat ein Kind sein Brot nicht angerührt. Die Betreuerin fragte es, warum es das Brot (das sogenannte Melon-Brot) nicht äße. Das Kind antwortete, dass es das Brot mit seinem Bruder zu Hause teilen möchte. Das Kind war 4 Jahre alt. Als ich dies hörte, musste ich mit den Tränen kämpfen. Welches Elend und welche Liebe zugleich!

Im anderen Kinderhort, aus dem die Kinder übers Dach fliehen mussten (schon erwähnt), habe ich gehört, dass die kleinen Kinder sogar im Schnee gewickelt werden mussten.

Diesmal hatten wir einen Geiger-Zähler, den meine Frau Susanne mir für Ryusuke geschickt hat. In Kamakura maßen wir 0.16 Mikro-Siebert, in Soma 0.50 und unterwegs in Ryosen 6.04. Dies sind die Werte pro Stunde. Bei 6.00 Mikro-Siebert pro Stunde ist es 144 pro Tag. In hundert Tagen ist der Wert 14.4 Mili-Siebert. Wenn man daran denkt, dass der Welt-Durchschnitt der Belastung eines Menschen 2.4 Mili-Siebert ist, kann man leicht nachvollziehen, dass dieser Wert in Ryosen sehr hoch ist. Die Leute, die dort ständig wohnen, ist es eindeutig bedenklich. Auch in Soma lassen die Betreuerinnen die Kinder gar nicht nach draußen. Diese dürfen nicht im Sandkasten spielen.

Wir kamen kurz nach Mitternacht wieder nach Kamakura zurück.


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