Ostern, 24. 04. 2011
Frohe Ostern allerseits! Vorgestern und besonders gestern hatten wir hier ein schlechtes Wetter. Es hat richtig gestürmt. Heute ist aber ein richtiges Osterwetter. Der Wind und der Regen legten sich völlig, und die Sonne scheint. Auch die gestrige Kälte ist verflogen.
Seit 1976 feiere ich zum ersten Mal Ostern ohne meine eigene Familie. Nach dem Gottesdienst in Kamakura bin ich nach Tokyo gefahren, um mit meinem Bruder Sushi zu essen, das ich in Kamakura gekauft habe. Für meinen Bruder ist es eine willkommene Abwechslung, weil das Essen in der Bezirks-Einrichtung zu wünschen übrig haben soll. Für ein Sushi, wofür man in Deutschland 15 Euro zahlen würde, zahlt man hier nur 5 Euro.
Die Schwierigkeit mit dem Japanisch habe ich dadurch gelöst, dass ich ein japanisches Notebook (natürlich privat) gekauft habe. So kann ich auch unterwegs - wie auch jetzt - jede 10 Minuten ausnutzen, wenn ich mit dem Zug reise. Die Internet-Verbindung ist immer noch ein Problem, aber nun ist es klar, dass es von der geographischen Lage abhängig ist. Denn Kamakura ist von den Bergen umgeben und nur die Südseite ist frei, weil dort das Meer liegt. Und logischerweise kommt die Internet-Welle vom Landesinneren. Ich habe eine wesentlich bessere Verbindung, wenn ich durch den nördlichen Tunnel fahre und in Kita(=Nord)-Kamakura bin.
Ausserdem habe ich ein kleines Gerät gekauft, um die SB-Karte meiner Kamera und das Notebook via USB zu verbinden, so dass ich ab jetzt Euch auch Fotos zeigen kann.
Inzwischen habe ich erfahren, dass ich bei einigen Wörtern in den letzten Berichten "L" und "R" verwechselt habe. So steigere ich die Echtheit meiner Berichterstattung aus "Japan".
Inzwischen hat Tepco den Arbeitsplan veröffentlicht, nach dem es noch 6 Monate dauert, bis die Auspuffung der Radioaktivität im Großen und Ganzen verhindert wird. Aber viele Fachleute sind ganz skeptisch, ob das möglich ist. Jedenfalls wird solange die radioaktive Wolke über die Umgebung fliegen. Das ist auch der Grund, warum einige Städte und Dörfer zusätzlich evakuiert werden. Nun ist auch ein grosser Teil von Minami-Soma betroffen. Ich sehe zwar keine Gefahr, wenn man sich ein Tag darin verweilt, aber für die Einwohner, die dort ständig leben müssen, ist es sehr belastend.
Nun setze ich die Geschichte von Soma fort. Als wir zu den Ruinen hinunterliefen, sahen wir eine Frau mit zwei Hunden herlaufen. Als sie sich uns zustieß, hat sie gleich angefangen zu erzählen. Ich war gerade dabei, die Gegend zu filmen. Als ihre Erzählung gleich tragisch zu werden begann, habe ich meine Kamera von ihr weggewandt. Denn ich habe kein Interview mit ihr vereinbart, und es wäre respektlos gewesen, wenn ich sie direkt gefilmt hätte.
Zunächst hat sie hauptsächlich mit Ryusuke gesprochen, während ich die Gegend filmte. Ein Satz, der mir auffiel, war, “Ich sollte nicht ständig weinen”. Dabei hat sie anschließend immer wieder geweint. Ihr Haus war weg, als sie von der Arbeit zurückkam. Sie suchte nach ihrem Kind und ihrer Mutter. Diese haben überlebt, aber zuerst konnte unsere Dame sie nicht finden. Ihre Mutter ihrerseits dachte, dass ihre Tochter tot sei. Zum Glück haben sie sich im Flüchtlingslager wiedergefunden. Nun ist unsere Dame von ihrer älteren Freundin aufgenommen worden. Aber ihr Kind ist nicht bei ihr sondern bei ihrem Bruder in einer anderen Präfektur, weil man die hohe Radioaktivität befürchtet hat und die Kinder dieser Gefahr nicht aussetzen wollte. Sie arbeitete an einer Fischerei, die vernichtet wurde. Es gibt keine Perspektive für sie. Die Mehrzahl der Schiffe in dieser Gegend wurden vernichtet. Ein Schiff der Fischerei kostet mehr als eine Million Euro. Viele haben den Kredit noch nicht fertig bezahlt. Selbst wenn sie noch ein Schiff haben, können sie in diesem radioaktiv verseuchten Meeresabschnitt nicht Fische fangen. Niemand kauft ihre Fische, selbst wenn sie sie außerhalb der Gefahrenzone fangen. Die Transporteure haben nichts zu transportieren, so dass sie die Mitarbeiter entlassen müssen. Es ist eine Kette der Elend. Unsere Dame haben viele Freunde/-innen verloren. Sie sagte, dass man schon viele Leichname gefunden hätte. Sie denke immer wieder, warum ausgerechnet sie überlebt hat. Es wäre besser gewesen, wenn sie gestorben wäre. Wir sagten, dass sie für ihr Kind leben stark leben sollte und dass es der Wunsch des Himmels ist, dass sie noch lebt, während viele Freunde/-inner gestorben sind. Es gibt immer noch einige, die nach ihren Partnern/-innen suchen. In diesem Berg vom Chaos suchen sie sie Tag für Tag mit einfachen Mitteln, mindestens ihre Leichname. Ja, das würden wir auch tun, wenn wir in ihrer Lage wären, nicht wahr?
Es hat mich beeindruckt und berührt, als ich ihr 10,000 JPYen (knapp 90 Euro) geben wollte. Hier erlaube ich mir folgende Anmerkungen: Ich bin hierher gekommen, nicht um einer Person, die mir persönlich gefällt oder nah steht, Geld zu geben. Denn alle Leidenden haben das Recht, unterstützt zu werden. Außerdem darf ich nicht mit der Haltung kommen, Almosen zu geben. Ferner darf ich nicht den Empfangenden den Eindruck aufkommen lassen, dass sie Almosen empfangen. Auf der anderen Seite habe ich von Euch den Wunsch gespürt, dass ich nicht hauptsächlich allgemein helfe, sondern konkret. Als ich ihre Elend sah und spürte, dass das Schicksal (der Himmel) uns zu dieser einmaligen Begegnung führte, habe ich mich spontan entschieden, ihr das Geld zu geben. Ich sagte ihr, dass ich in Deutschland die Spenden gesammelt habe und dass die deutschen Freunde von mir etwas Konkretes erwarten, und dass jetzt diese Gelegenheit gekommen sei. Sie hat fürchterlich geweint und wollte das Geld nicht empfangen. Selbst in dieser Elend fühlt sie sich nicht berechtigt, das Geld zu empfangen. Es war nicht so, dass sie zu stolz war, das Geld zu empfangen. Sie fühlte sich unwürdig. Offensichtlich spielte auch der Gedanke mit für diese Haltung, dass sie an andere Leidensgenossen/-innen dachte. Sie allein sollte nicht privilegiert sein. Ich wiederholte die Aussage, dass das Geld nicht von mir persönlich sondern von den Deutschen sei und dass diese Begegnung eine einmalige Gelegenheit ist. Sie hat den Geldschein dann doch empfangen, aber beim Abschied hat sie ihn aus der Jackentasche herausgeholt und wollte ihn Ryusuke zurückgeben. Ryusuke sagte ihr, dass es das Herzensgeschenk vieler Deutschen sei. Ich sagte, sie kann es mit anderen auch teilen. Am Ende bedankte sie sich sehr, und wir haben uns von ihr getrennt, um arbeiten zu gehen. Nach der Trennung von ihr sagte Ryusuke mir, das ist die wahre harte Wirklichkeit, die wir im Fernsehen nicht sehen. Ich habe mir mit Freude notiert, dass sie gesagt hat, dass es ihr besser geht, wenn sie mit anderen über das Leid spreche.
Nun waren wir kurz bei Frau Niizuma und nach einer Tasse Tee fuhren wir zur Bucht, Matsukawaura.
Das erste Haus gehörte Familie Sou, die aus Hiroshima hierher umgezogen war. Obwohl ihr Haus sehr nah am Meer war, ist es stehengeblieben. Allerdings kam das Wasser über 1 m hoch im Erdgeschoss, so dass sie in den 1. Stock fliehen musste. Das Erdgeschoss war mit zum Teil öligem Sand 10 cm dick überdeckt. Allerdings war der Sand größten Teils schon beseitigt mit der Hilfe von anderen. Denn Frau Sou ist zwar eine rüstige Anfang Sechzigerin, aber ihr Mann ist herzkrank und ihre Mutter ist schon sehr alt. Sie konnte schwere Möbel und Türen, die gereinigt werden sollen, nicht allein bewegen. In der Mittagspause haben wir einfaches aber gutes Essen bekommen, dem die Nachbarn etwas dazu beigetragen haben.
Das zweite Haus, das wir gereinigt haben, lag direkt am Meer. Da es stabil gebaut und noch ziemlich neu war, wurde sie nicht von den Wellen zertrümmert. Ein großes Schiff lag am Eingang des Hauses auf dem Kopf, so dass man um es herum gehen und durch die Seitentür ins Haus musste. Das Haus war an zwei Seiten mit den Bambusstangen und starke Schnüren umwickelt, die man für den Wakame-Seetang verwendet hat. Sie waren so stark verwoben, so dass wir große Schwierigkeiten hatten, sie zu beseitigen, womit wir leider nicht zu Ende kamen. Denn wir mussten wieder über 6 Stunden nach Hause fahren. Ich habe den internationalen Führerschein nach Japan mitgebracht, aber an diesem Tag habe ich ihn zu Hause vergessen, so dass die anderen Drei sich abmühen mussten. Es wäre auch etwas gefährlich gewesen, wenn ich kurz nach meiner Ankunft in Japan den Auto-Linksverkehr meistern sollte. Wir kamen gegen 0.30 Uhr wieder nach Hause. Es war praktisch 24 Stunden Einsatz.
Es ist wirklich bewunderbswert, dass Ryusuke diese strapaziösen Fahrten zwei Mal die Woche leistet. Am Osternsonntag war ich besuchte ich ihn im Bar Ram, weil er sonntags Dienst hat. Zufällig kamen auch seine Mutter und die Tante. Das sind sehr liebeswürdige und mutige Damen. Frau Okano sagte aber, dass sie schon etwas Sorge um Ryusuke hat wegen der Radioaktivität. Denn er sei noch jung und werde noch Kinder bekommen. Auch der jüngere Bruder von Ryusuke namens Teppei ist bei der Katastrophenhilfe als ein Mitglied von “Care”. Er ist zur Zeit dabei in Miyako die Flüchtlinge in die Fertigbauhäuser einzuweisen. Ich freue mich darauf, ihn dort zu treffen. Übrigens habe ich Frau Okano gesagt, dass Ryusuke in Deutschland schon etwas berühmt sei und viele ihn lieben. Sie sagte, auch eine blauäugige Braut ist willkommen :-)
Nun bin ich bei meinem ehemaligen Klassenkameraden Tomoichi Mitsuhashi. Gestern bin ich hierher gekommen, hier übernachtet und 4 Stunden gut geschlafen. Im Moment genügt das mir. Da ich leider den Aufladekabel für dieses Netbook in Kamakura vergessen habe, stelle ich dieses Mal noch keine Fotos. Dieser Bericht soll auch als meinen Ostergruß Euch erreichen und soll nicht zu spät werden. Ich freue mich nun auf den Einsatz in Miyako. Wir holen ein Leihauto, lade die Saschen, die die Damen der Kirche schon vorbereitet haben und fahren los. Ich schätze, wir brauchen 10 Stunden bis Miyako.
Übrigens möchte ich nicht versäumen zu erwähnen, dass die Volksbank Kirnau in Rosenberg freundlicherweise die Überweisungskosten übernommen hat. Vielen Dank!
Viele liebe Grüße aus Shirakomachi in der Chiba-Präfektur. Michael Daishiro Nakajima